Warum brauchen wir eine Verkehrswende?

Wir alle sind gewohnt, dass das Berliner Stadtbild vom Autoverkehr geprägt ist. Über den Stadtring kommen Autos schnell von einem Ende der Stadt zum anderen, der Wocheneinkauf für die Familie lässt sich mit dem Auto bequem erledigen. Das eigene Auto galt lange Zeit für viele Menschen als unverzichtbar. Doch die Zeiten ändern sich.

Denn ein Pkw ist zwar praktisch und komfortabel für die, die drin sitzen. Alle anderen bezahlen für den Komfort von wenigen jedoch mit starker Einschränkung ihrer Lebensqualität – vor allem in Städten wie Berlin mit hohem Pkw-Verkehr.

Und es werden immer mehr! Durch die zunehmende Einwohnerzahl kommen jeden Monat über 1.000 neue Fahrzeuge hinzu. Diese Zahl muss wirklich jeder und jedem zu denken geben. Niemand hat ein Konzept, wie diese Autos auf Dauer alle in unsere Stadt passen sollen. Wir steuern also auf eine Situation zu, in der der Straßenverkehr früher oder später zusammenbrechen wird.

Obwohl nur knapp ein Drittel aller Wege in Berlin mit dem Auto zurückgelegt werden, steht dem motorisierten Verkehr ein überproportional großer Anteil der Strassenflächen zur Verfügung. In anderen europäischen Metropolen wie Paris, Madrid oder London wurde dieses Problem schon vor vielen Jahren erkannt und angegangen. Der Denkansatz lautete dort: Wir wollen weniger Autos in der Stadt, weil das viele Probleme macht (Platz, Lärm, Luft). Deshalb drängen wir den Kfz-Verkehr zurück und machen Parkplätze teuer. Wir verbessern den ÖPNV und bauen gute Radwege. In Paris wurden ab 1990 Massnahmen gegen den starken Autoverkehr ergriffen, seitdem konnte er in der Innenstadt um fast 50 % reduziert werden. In London wurde der Autoverkehr durch die Einführung der Citymaut eingeschränkt, der Radverkehr konnte durch das Konzept der “Cycle Superhighways” vervielfacht werden. In Kopenhagen und Amsterdam haben durch kontinuierliche Förderung seit den 70er Jahren vorbildliche Radwege einen hohen Radverkehrsanteil hervorgebracht und den Autoverkehr stark vermindert.

In Berlin ist ein breites politisches Bewusstsein für dieses Problem noch nicht erkennbar. Der Denkansatz in Berlin lautete bisher: Ja, wir wollen zwar etwas für den Radverkehr tun. Aber nur soweit der “Verkehr” (gemeint ist der Autoverkehr) möglichst nicht beeinträchtigt wird. Da wurde dann lieber den Fussgängern Platz weggenommen und ein Radweg auf dem Bürgersteig angelegt. Der Autoverkehr wurde durch die weitere Planung der Stadtautobahn gefördert.

Das kann und wird aber nicht so weitergehen. Um den Anforderungen des Pariser Klimaschutzabkommens gerecht zu werden, muss der Verkehr seine Treibhausgasemissionen schnell und drastisch verringern, momentan steigen sie aber. Experten schätzen, dass sich in Ballungsgebieten bis zu 30 Prozent der Pkw-Fahrten auf den Radverkehr verlagern ließen. Wenn man berücksichtigt, dass das Auto in fast der Hälfte aller Fälle für Fahrten genutzt wird, die nicht länger als 5 km sind und genau auf diesen Distanzen das Rad ein ideales Alltagsverkehrsmittel darstellt, lässt sich ein deutliches Umstiegspotential erkennen.

Und es lässt sich nicht leugnen: Viele Menschen möchten nicht mehr allein aufs Auto angewiesen sein. In einer Umfrage des Bundesumweltamtes stimmten 91 % der Befragten der Aussage zumindest teilweise zu, dass Städte so umgestaltet werden sollten, dass der Fokus nicht mehr auf dem Auto liegt und damit auch die Abhängigkeit wegfällt. Aber Radfahren ist vielen in Berlin zu gefährlich und unbequem. Viele bereits bestehende Radwege sind in beklagenswertem Zustand: stark baufällig, holprig und schmal. Auf den Asphalt gemalte Schutzstreifen sind nicht vor falschparkenden Autos geschützt. Deshalb muss die Infrastruktur für Radfahrende in der Stadt stark verbessert und weiter ausgebaut werden. Wir wollen, dass alle – vom 8jährigen Kind bis zum 80jährigen Senior  – in Berlin sicher und komfortabel Rad fahren können. Nur die Aussicht, dass sie sichere und komfortable Radwege nutzen können, werden Autofahrende davon überzeugen, auch mal das Fahrrad zu benutzen. Dadurch wird dann auch wieder Platz auf den Straßen frei für diejenigen, die wirklich aufs Auto angewiesen sind.

Das neue Berliner Mobilitätsgesetz, das im Sommer 2018 in Kraft trat, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Um ein Gleichgewicht im Verkehr zu erreichen, sollen in Zukunft Radverkehr, Fußverkehr und öffentliche Verkehrsmittel in der Verkehrsplanung Vorrang vor dem Autoverkehr haben. Doch ohne öffentlichen Druck und ein Umdenken in der überlasteten, demotivierten, mit antiquierten Verfahren arbeitenden und noch am Motto der autogerechten Stadt hängenden Verwaltung wird es nicht gelingen, die Verhältnisse zu ändern.

Wir, das Netzwerk Fahrradfreundliches Tempelhof-Schöneberg, haben uns zum Ziel gesetzt, die Verkehrswende voranzutreiben und Öffentlichkeit, Politik und Verwaltung auf diesem Weg zu begleiten, zu inspirieren und anzuspornen.

Und das nicht nur in Tempelhof-Schöneberg. Auch in anderen Berliner Bezirken und in vielen deutschen Städten arbeiten momentan neue Initiativen und Netzwerke, die im Dachverband Changing Cities organisiert sind, an diesen Zielen.