Schutzstreifchen am Berlinickeplatz

Seit vielen Jahren berichtet das Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg von einem geplanten Radverkehrsprojekt auf der Schöneberger Straße und Alt-Tempelhof zwischen Alboinstraße und Tempelhofer Damm, ohne dabei konkret zur Führungsform des Radverkehr und zum Ausführungszeitpunkt zu werden. Es hieß immer nur: Zuerst müssen die Wasserbetriebe bauen, danach kommt die Radinfrastruktur dran.

Nun haben die Wasserbetriebe bis Mitte des Jahres 2021 gebaut, sogar mit einem bauzeitlichen Radfahrstreifen (gut!). Die Baustelle ist inzwischen beräumt, die Radfahrstreifen sind wieder verschwunden (schlecht!).

Mitte August 2021 keimte bei uns kurz Hoffnung auf, dass nun das Radverkehrsprojekt realisiert wird, als wir beginnende Markierungsarbeiten am Berlinickeplatz sahen. Doch die Hoffnung zerstob schnell, als wir sahen, was da auf die Straße gepinselt wird.

Doch ehe wir das Ergebnis der Markierungsarbeiten genauer anschauen, befassen wir uns zunächst mit dem Soll: Welche Radinfrastruktur mit welchen Maßen wäre dort zu schaffen

  • laut Mobilitätsgesetz, was seit Juli 2018 gilt,
  • laut den Vorgaben für die Radverkehrsplanung, die seit Anfang 2021 gelten,
  • laut dem Radverkehrsnetz, das im Entwurf seit September 2020 vorliegt und gerade hier in der Schlussfassung veröffentlicht wurde.

Schöneberger Straße und Alt-Tempelhof sind Hauptverkehrsstraßen, hier sind geschützte Radfahrstreifen oder Radwege mit einer Regelbreite von 2,3 m (Mindestbreite von 2,0 m) zu errichten. Zwischen Alboinstraße über den Berlinickeplatz hinweg bis zur Stolbergstraße gehört der Straßenzug sogar zum Vorrangnetz, wonach geschützte Radfahrstreifen oder Radwege mit einer Regelbreite von 2,5 m (Mindestbreite von 2,3 m) zu schaffen sind.

Am Berlinickeplatz kreuzt die Manteuffelstraße, ebenfalls eine Hauptverkehrsstraße mit den eben genannten Regel- und Mindeststandards.

Nun schauen wir uns an, was Mitte August markiert worden ist:

Schöneberger Straße, Fahrtrichtung Ost:

  • Schutzstreifen, genügt nicht den Anforderungen des Mobilitätsgesetzes und den Vorgaben für die Radverkehrsplanung, weil ungeschützt gegenüber dem Kfz-Verkehr,
  • Breite 1,4 m, genügt weder den Regel- noch den Mindestmaßen,
  • direkt im Türraum parkender Kfz geführt, große Gefahr für Türunfälle, wenn Kfz-Führende ohne Rücksicht auf den Radverkehr die Tür öffnen,
  • links daneben nur mit 0,25 cm Breitstrich getrennt ein Fahrstreifen in Regelbreite, was unweigerlich dazu führt, dass Kfz mit weniger als 1,5 m Seitenabstand an Radfahrenden vorbeifahren.

Alt-Tempelhof, Fahrtrichtung West:

  • Schutzstreifen, genügt nicht den Anforderungen des Mobilitätsgesetzes und den Vorgaben für die Radverkehrsplanung,
  • Breite 1,6 m, genügt weder den Regel- noch den Mindestmaßen,
  • links daneben nur mit 0,25 cm Breitstrich getrennt ein Fahrstreifen in Überbreite, hier wäre also Platz gewesen, die Radinfrastruktur in Regelbreiten zu schaffen.

Manteuffelstraße, Fahrtrichtung Süd:

  • Angebotsstreifen im Kfz-Fahrstreifen neben dem bestehenden Hochbordradweg, genügen nicht den Anforderungen des Mobilitätsgesetzes und den Vorgaben für die Radverkehrsplanung, Der Angebotsstreifen wird ohnehin regelmäßig von Kfz zugestellt.
  • Die Breiten beider Radverkehrsanlagen unterschreiten die Regel- und Mindestmaße.

Manteuffelstraße, Fahrtrichtung Nord:

  • Angebotsstreifen im Kfz-Fahrstreifen neben dem bestehenden Hochbordradweg, genügen nicht den Anforderungen des Mobilitätsgesetzes und den Vorgaben für die Radverkehrsplanung, Der Angebotsstreifen wird ohnehin regelmäßig von Kfz zugestellt.
  • Die Breiten beider Radverkehrsanlagen unterschreiten die Regel- und Mindestmaße.

Deshalb müssen wir ein ernüchterndes Fazit ziehen: Dem Mobilitätsgesetz und den vertiefenden Planungsvorgaben zum Trotz wurde hier eine überholte Radinfrastruktur auf die Straße gepinselt. Schade um die wertvollen Planungs- und Baukapazitäten, schade um die aufgewendeten finanziellen Mittel.

Vor 20 Jahren hätte man solche Radinfrastruktur als Fortschritt angesehen, als man nur mutige, geübte und sichere Radfahrende ansprach. Doch heute stehen Menschen im Mittelpunkt, die sich noch nicht trauen, auf Berliner Hauptstraßen Rad zu fahren. Für sie muss man sichere Radinfrastruktur schaffen, das sind breite, geschützte Radfahrstreifen oder Radwege.

Übrigens: Auf den restlichen 95 % des Straßenzugs Schöneberger Straße und Alt-Tempelhof fehlt nach wie vor jegliche Radinfrastruktur. Wo bleibt hier das lang versprochene Projekt?